Was hatte Sie als Student dazu veranlasst, eine Research-Laufbahn im Bereich Finance einzuschlagen?
„Nachdem ich meinen Abschluss als Bachelor absolviert hatte, war ich nicht sicher, in welche Richtung ich mich weiterentwickeln will. Damals schrieb die Universität ein Praktikum vor, bevor ich meinen Master-Abschluss angehen konnte. Das war eine Voraussetzung für Schüler, die im Gymnasium nicht Betriebswirtschaft belegt hatten – ich hatte mich auf Geisteswissenschaften mit Latein spezialisiert.“
„Während meines Praktikums bei einem Versicherungsunternehmen in Spanien im Jahr 1991 hatte ich viel freie Zeit. Zufälligerweise hatte ich das Buch von John Hull über die Preisbildung von Optionen1 bei mir, außerdem ein Weiteres von einem anderen Autoren zum Thema Kapitalmarkttheorie. Im Zuge der Lektüre war ich spontan von der Welt der Derivate und der Finanzmärkte fasziniert. Als ich mich wieder meinen Master-Studien zuwandte, wusste ich, dass ich mich auf Finanzen und Wirtschaft spezialisieren wollte – mit einer Präferenz für die quantitativen Aspekte der Theorie.“
„Da ich die relevante Literatur bereits während meines Praktikums in Spanien gelesen hatte, stellten die Vorlesungen, welche ich an der Universität belegte, eine Wiederholung der Inhalte dar, mit denen ich mich bereits befasst hatte. Daher schnupperte ich in spezialisierte Mathematik-Vorlesungen an der ETH Zürich hinein. Eine davon beschäftigte sich mit stochastischen Prozessen, eine andere mit der Geschichte und der Philosophie der Mathematik.“
„Zur Finanzierung meines Studiums arbeitete ich auch für eine innovative Privatbank, die im Jahr 1993 strukturierte Produkte entwickelte. Dort gehörte ich zu einem kleinen Team, das aus drei Studenten bestand. Man gab uns viel Freiraum zur Umsetzung unserer Ideen in einem Markt, der gerade erst im Entstehen begriffen war. Daraus ergab sich eine großartige Erfahrung, welche mir ein gründliches theoretisches Verständnis und Einblicke in die praktische Relevanz – oder Irrelevanz – der Theorie vermittelten.“
Seither haben Sie sich weiter spezialisiert und Finanzresearch mit Nachhaltigkeit verknüpft. Wie kam es dazu?
„Nach Beendigung meines Doktorandenstudiums im Bereich Finance arbeitete ich fast vier Jahre lang in Vollzeit in der Finanzbranche. Dessen ungeachtet forschte ich in meiner Freizeit nach wie vor gern weiter. Nach einer gewissen Zeit verlegte ich mich schließlich ganz auf meine Leidenschaft und beschloss, eine akademische Karriere einzuschlagen. Im Jahr 2002 wurde ich Professor und sammelte über viele Jahre Erfahrung im Research und in der Lehre im Bereich Quantitative Finance an Institutionen wie der Federal Reserve Bank of New York, dem Imperial College London und der Universität Zürich.“
„Nachdem ich im Jahr 2016 eine Familie gegründet hatte, verspürte ich jedoch das Bedürfnis, meine Energie und meinen Fokus auf etwas zu legen, das der Zukunft meiner Kinder und vielleicht der Gesellschaft insgesamt dienen kann. Wenn sie einmal groß sind, kann ich ihnen zumindest sagen, dass ich mein Wissen und meine Fähigkeiten für etwas Gutes einzusetzen versucht habe. Das war für mich der Wendepunkt, um mich auf das Thema Climate Finance zu konzentrieren. Zur gleichen Zeit begann sich aufgrund meiner Neugier für neue (und quantitative) Technologien mein Interesse an maschinellem Lernen und Natural Language Processing (NLP) zu entwickeln. Hinzu kam, dass ich einen großen Nutzen in der Kombination von Climate Finance mit NLP erkannte.“
Das ist ein rasch an Bedeutung gewinnender Forschungsbereich. Was steht aktuell auf Ihrer Research-Agenda?
„Mich faszinieren Themen mit Bezug zum Bereich Climate Finance – vom Asset Pricing bis hin zum Management von Klimarisiken, Berichterstattung und Finanzwirtschaft. Spannend finde ich auch die Verknüpfung dieser Themen mit Künstlicher Intelligenz (KI), insbesondere mit NLP. Im Bereich NLP hat es große Fortschritte gegeben. Zu verdanken sind diese dem Einsatz neuronaler Netzwerke und Techniken des maschinellen Lernens. Eine Ahnung davon, was mit NLP möglich ist, erhielt ich bei meinem ersten Besuch bei Google im Jahr 2019. Einige Jahre später bin ich nun als Gast-Researcher wieder für Google tätig, um mein Verständnis weiter zu vertiefen.“
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Wie können Ihrer Ansicht nach alternative Daten und Techniken zu Nachhaltigkeit beitragen?
Es gibt eine große Zahl bislang ungenutzter alternativer Daten, die sich für nachhaltige Investments und nachhaltige Finanzprodukte verwenden lassen. Diese Daten sind in modularer Form verfügbar, d. h. als Zahlen, Grafiken, Bilder, Tabellen und Texte. Allerdings sorgt die große Menge an Daten auch für Probleme. Deshalb benötigen wir die richtigen Instrumente, um relevante Informationen herauszuziehen, die passenden Analysen vorzunehmen und die Ergebnisse zu kommunizieren. Nur so können wir die benötigte Transparenz erreichen.“
„Außerdem sollten die Rohdaten und die verwendeten Methoden offengelegt werden und als Open Source verfügbar sein. Im Sinne guter wissenschaftlicher Praktiken müssen deshalb die Messgrößen, die wir zur Bewältigung der Klimakrise verwenden, replizierbar sein. Wir dürfen uns nicht auf Kennzahlen Dritter verlassen, bei denen wir nicht bestimmen können, was sie messen und wie sie das tun.“
Apropos Transparenz bei Nachhaltigkeit – wie lässt sich Greenwashing vermeiden?
„Greenwashing ist heutzutage ein allgegenwärtiger Begriff. Ich verstehe unter Greenwashing eine spezielle Methode gezielter Fehlinformationen von Konsumenten, Investoren und der Öffentlichkeit. Branchenverbände unternehmen erhebliche Anstrengungen, um ihre eigenen Standards und Regeln zur Offenlegung zu festzulegen. Sie verfolgen diese Initiativen als Teil wichtiger Kampagnen zur Schaffung eines positiveren Marken- oder Branchen-Image in der Öffentlichkeit.“
„Diese Bemühungen sind sicherlich lobenswert. Zwar bin ich vom Grundsatz der freien Marktwirtschaft überzeugt, auf jeden Fall in den Bereichen, in denen sie effektiv funktioniert. Doch reicht Selbstregulierung nicht aus, um Greenwashing zu vermeiden. Deshalb ist eine staatliche Regulierung erforderlich, um Greenwashing unter Kontrolle zu bekommen. Wie jedoch die Titulierung von Erdgas als „grün“ durch die Europäische Union zeigt, öffnet dies die Büchse der Pandora für politische Verfahren und Lobbying.“
„Daher ist eine weitere wichtige Voraussetzung, Verbraucher und Anleger besser zu informieren. In einer kürzlich durchgeführten Untersuchung2 fanden wir heraus, dass der Wissenstand in Bezug auf Sustainable Finance selbst in der Schweiz begrenzt ist. Wenn wir also das Wissen der Öffentlichkeit verbessern, dann wird der Übergang zu einer nachhaltigeren Wirtschaft weniger anfällig für Beeinträchtigungen sein, die sich aus der Langsamkeit des politischen Wandels ergeben.“
Was ist die Zukunft im Bereich quantitativer und nachhaltiger Investments?
„Wenn Sie mich das vor fünf Jahren gefragt hätten und ich meine damalige Antwort mit den heutigen Gegebenheiten verglichen hätte, hätten Sie vermutlich den Eindruck gehabt, dass Forscher schlicht keine Vorstellung davon haben, in welche Richtung sich die Welt entwickelt. Wer hätte damals gedacht, dass sich im Bereich Sustainable Finance dank quantitativer Methoden völlig neue Fragestellungen ergeben? Mit der Hilfe von Künstlicher Intelligenz lässt sich der Einsatz quantitativer Methoden im Bereich Nachhaltigkeit noch ausbauen.“
„Insbesondere bin ich der Ansicht, dass wir bei der Kombination numerischer Daten, Satellitendaten und Textinformationen bedeutende Fortschritte machen werden. Gleichzeitig gibt es jedoch einen zunehmenden Bedarf nach Entwicklung von Methoden, welche diese Informationen auf eine Weise präsentieren, die auch für den Laien transparent und gut verständlich ist. Im Sinne guter wissenschaftlicher Praxis sollten die verwendeten Daten und Methoden außerdem als Open Source verfügbar und für jedermann zugänglich sein.“
Fußnoten
1 Hull, J. C., ” Options, Futures, and Other Derivatives”, Pearson, 1988.
2 Filippini, M., Leippold, M., und Wekhof, T., “Sustainable finance literacy and the determinants of sustainable investing”, SSRN Working Paper, 2022.