Auf unseren beiden letzten Inflation Days konzentrierten wir uns auf bestimmte Inflationsfaktoren wie angebotsseitige Schocks, Energiepreise, Arbeitsmärkte und langfristige Trends wie Globalisierung (oder Reshoring) und Alterung. In diesem Jahr stand die voraussichtliche Inflationsentwicklung in den nächsten 12 Monaten im Fokus.
Externe Fachleute waren eingeladen, um darüber zu sprechen, ob sie im nächsten Jahr eine Rückkehr der Inflation zu den Zielen der Notenbanken erwarten oder nicht. Wir möchten Stephen King (HSBC), Bruce Kasman (JP Morgan) und Bhanu Baweja (UBS) für ihre wertvollen Erkenntnisse danken.
Die Bedeutung der Psychologie
Der vielleicht wichtigste Punkt ist, dass alle Redner die Bedeutung der Psychologie der Inflation hervorhoben. Nach fast zwei Jahren hoher Teuerung ändern Haushalte, Unternehmen und Zentralbanken jetzt allmählich ihre Auffassung zur Inflationsgefahr.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist, wie sehr sich die Überzeugung durchgesetzt hat, dass die Inflation länger hoch bleiben wird. Es war für uns schwierig, auch nur einen Redner zu finden, der die bisherige drastische Straffung der Geldpolitik für ausreichend hält, um den Geist der Inflation wieder in die Flasche zu bekommen.
Wir teilen zwar die Bedenken der Konsens-Vertreter, möchten aber betonen, dass insbesondere die Preise für Lebensmittel und Energierohstoffe auf einen weiteren Rückgang der Gesamtinflation in der Zukunft hinweisen. Zudem verbessert sich die Lieferkettensituation weiter, was für die Kerninflation Gutes verheißen sollte. Schließlich unterstreichen wir, dass das anhaltende Rezessionsrisiko für einen Inflationsrückgang sorgen könnte, was alle Redner anerkannt haben.
Im Folgenden beschreiben wir die Haupteinflussfaktoren der Inflation für die nächsten 12 Monate und argumentieren, ob diese zu einer über dem Ziel liegenden oder diesem entsprechenden Inflation beitragen werden.
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Argumente für eine über dem Ziel liegende Inflation
Das Zusammenwirken von massiven Konjunkturprogrammen, lockerer Geldpolitik, Lieferkettenproblemen und unerprobten Einschränkungen der Bewegungsfreiheit hat die Erwartungen von Analysten gegenüber dem vor der Pandemie herrschenden Zutrauen in die Fähigkeit der Zentralbanken, ihre Inflationsziele einzuhalten, merklich verändert. Und zwar so sehr, dass es schwierig war, einen Experten zu finden, nach dessen Überzeugung die Inflation in den kommenden 18 Monaten zum Ziel zurückkehren wird, ohne eine harte Landung zu verursachen. Man muss sich vielmehr auseinandersetzen mit den Folgen von Verwerfungen wie anhaltend hohen Lohnforderungen von Gewerkschaften (vor allem in Europa), fortdauernden Ungleichgewichten am Arbeitsmarkt und übermäßigem Vertrauen in mittlerweile überholte Modelle, die eine potenzielle Dynamik der Inflationserwartungen ignorieren. Deshalb sind die Reaktionsfunktionen der G7-Notenbanken von vor der Corona-Pandemie möglicherweise nicht mehr geeignet. Und die politischen Folgen, die man sich von der gegen Inflationsschocks nach der Pandemie gerichteten staatlichen Sparpolitik erwartet, machen die Dinge noch komplizierter.
Inflation ist ein Entdeckungsprozess
In der Zeit nach der Pandemie reichte die öffentliche Reaktion auf hohe Inflationsraten anscheinend von Ignoranz und Leugnung bis hin zu Überraschung und Anerkennung. Wir erreichen jetzt die nächste Stufe der mentalen Anpassung an Preisänderungen. Die Inflation ist ein Entdeckungsprozess – vor allem, wenn sie von nahe null ausgeht und wie in der Zeit nach der Globalen Finanzkrise weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Die meisten, die heute am Wirtschaftsleben teilnehmen, haben noch nie eine längere Phase mit steigenden Preisen und Zinssätzen erlebt. Das ist ein Prozess des Aufwachens und der Anpassung von Erwartungen. Der stetige Anstieg der Inflationsraten in den letzten Jahren hat zu einem allmählichen Aufbau von Kurzzeitgedächtnis geführt und Erinnerungen an die 1970er und 1980er Jahre und/oder die Zeit der Stagflation zurückgebracht. Die Inflation hat auch in nicht von den angebotsseitigen Schocks der Pandemie betroffenen Bereichen zugenommen, was schlicht auf die Verbreitung des Inflationsnarrativs durch verschiedene Medien zurückzuführen ist. Allein dieser Prozess hat Angst und Befürchtungen ausgelöst und zu einer raschen Zunahme sozialer und politischer Besorgnis geführt. Obwohl die Gesamtinflation abnimmt, könnte es weiter höhere Lohnforderungen geben, sodass die Kerninflation hoch bleiben und der Rückgang der Gesamtinflationsrate begrenzt würde.
Die Zentralbanken spüren den Druck
Obwohl Zentralbanken wie die kanadische und australische wegen potenzieller politischer Risiken vorausschauend reagiert haben, weckt die hohe Inflation bei vielen anderen Zentralbanken wieder Sorgen mit Blick auf ihre Unabhängigkeit. Insbesondere eine wahrgenommene Zurückhaltung, um nicht die kurzfristigen Wachstumsaussichten zu beeinträchtigen, birgt das Risiko politischer Gegenschläge, vor allem in polarisierten Gesellschaften wie in Mittel- und Osteuropa. Zentralbanken, die eine etwas über ihrem Ziel liegende Inflation hinnehmen, könnten allerdings zu einer postpandemischen Haushaltskonsolidierung beitragen. Schließlich weisen wissenschaftliche Untersuchungen der Reaktionen von Unternehmen auf neu gewonnene Preissetzungsmacht auf das Risiko widersprüchlicher Anreize hin, durch die Inflationsimpulse noch verstärkt werden. Besonders Unternehmen, die auf Preiserhöhungen verzichten, riskieren, dass Anleger sie durch fallende Aktienkurse mit unmittelbaren negativen Vermögenseffekten für die Unternehmensleitung bestrafen. Daher sind die realen Leitzinsen vielleicht höher als in den letzten Jahrzehnten üblich. Sie könnten aber immer noch zu niedrig sein, um die vor uns liegenden Inflationsprobleme zu lösen.
Argumente für eine dem Ziel entsprechende Inflation
Natürlich gibt es auch Argumente für eine niedrigere Inflation. Nachstehend beschreiben wir drei auf eine Inflationsverlangsamung hinweisende Trends. Erstens scheint sich die Psychologie der Inflation zu verändern. Umfragen zufolge erwartet die Bevölkerung nicht mehr immer schnellere Preiserhöhungen, sondern einen Inflationsrückgang. Die gefühlte Inflation könnte dabei eine Rolle spielen. Bestimmte Inflationskomponenten sind sichtbarer als andere. Ein Beispiel dafür sind die Benzinpreise. Ein weiteres sind die Lebensmittelpreise. Diese Preise gelten zwar als weniger relevant für den Konjunkturzyklus, beeinflussen aber die kurzfristigen Inflationserwartungen. Diese sind für die nächsten 12 Monate tatsächlich gesunken, und Umfragen unter Verbrauchern in den USA und der Eurozone deuten inzwischen auf eine Inflationserwartung von 4 % oder weniger hin. Sie liegt inzwischen also unter dem Lohnwachstum. Analysen der Fed zufolge beeinflussen die Inflationserwartungen die Lohnforderungen. Sollte sich der jüngste Trend fortsetzen, könnte geringeres Lohnwachstum die hartnäckigeren Inflationskomponenten abschwächen. Diese Entwicklung könnte sich noch verstärken, wenn Lebensmittel- und Energiepreise in den nächsten Quartalen zu einem Rückgang der Gesamtinflation führen.
Stabilisierung der Mieten wirkt verzögert
Ein anderer Grund, warum sich die Inflation (in den USA) weiter verlangsamen könnte, ist die verzögerte Wirkung geringerer Mieterhöhungen. Dies trifft auf die USA zu, wo seit dem zweiten Quartal 2022 abgeschlossene Mietverträge viel geringere Mieterhöhungen enthalten. Diese neuen Verträge wirken sich jedoch nur teilweise und mit einer Verzögerung von drei bis vier Quartalen auf die Mieten im Warenkorb aus. Untersuchungen von Statistikbehörden wie dem Amt für Arbeitsmarktstatistik in den USA deuten seit letztem Oktober auf eine daraus resultierende inflationsdämpfende Wirkung hin, die auch vor kurzem bestätigt wurde. Wegen des großen Gewichts von Mieten in Warenkörben – insbesondere in den USA – können deutlich langsamere Mieterhöhungen ohne Weiteres zu einem Inflationsrückgang um 1-2 % führen.
Lieferkettenprobleme lassen nach
Lieferketten haben sich durch die in der Pandemie gemachten Erfahrungen möglicherweise dauerhaft verändert. Viele während der Pandemie und unmittelbar danach knappe Güter können jetzt viel leichter beschafft werden. Autos sind ein gutes Beispiel für diesen Trend. Die Produktionsvolumina erholen sich rasch, und Lagerbestände werden wieder aufgebaut – in den USA schneller als in Europa. Das Ergebnis ist eine allmähliche Rückkehr der üblichen Marktdynamik mit Gewährung von Preisnachlässen durch die Händler. In Warenkategorien wie dieser, die in den Jahren 2021 und 2022 erheblich zur Inflation beigetragen hatten, könnten die Preise sogar sinken.
Schlussfolgerungen und Bedeutung für die Märkte
Wie bereits erwähnt, hoben alle drei externen Redner auf unserem dritten Annual Inflation Day die Bedeutung der Psychologie der Inflation von Haushalten und Unternehmen hervor, worin ein ernstes Risiko für eine Lohn-Preis-Spirale gesehen wird. Sie sprachen auch über die Psychologie der Zentralbanken, die sich – nachdem sie die Inflation fast zwei Jahre lang unterschätzt hatten – bei ihrer Geldpolitik jetzt nicht an der zukünftig erwarteten Inflation (also vorausschauend) sondern an den tatsächlichen zugrunde liegenden Inflationstrends orientieren wollen (d. h. leicht rückwärtsgewandt).
Was die Psychologie von Analysten angeht, scheint die Ansicht sehr weit verbreitet zu sein, dass die Kerninflation auf längere Sicht hoch bleiben wird. Unter Abwägung aller Argumente halten wir allerdings ein Szenario für etwas wahrscheinlicher, in dem eine niedrigere Gesamtinflation, schwaches Wirtschaftswachstum und eine weitere Straffung der Geldpolitik die Kerninflation in vielen Ländern bis Ende nächsten Jahres wieder nahe an die Inflationsziele heranbringen werden. Dabei wird es sicher große regionale Unterschiede geben, wobei einige Regionen (z. B. Osteuropa) und Länder (z. B. das Vereinigte Königreich) wahrscheinlich hinterherhinken oder sogar Schwierigkeiten haben werden, ausreichenden Inflationsdruck zu erzeugen (z. B. China).
Was die langfristigen (nicht zyklischen) Inflationsaussichten betrifft, für die Faktoren wie die Produktivität, Alterung, Digitalisierung, Robotisierung und KI sowie globale Wertschöpfungsketten als wichtiger angesehen werden, bleiben wir zurückhaltend. (Denn vor zwei Jahren gehörten wir zu denen, die die Inflationsgefahr unterschätzten.) Erwähnenswert ist auch, dass die Unsicherheit darüber, wie hoch die Inflation in den USA in fünf Jahren sein wird, dem Optionsmarkt nach zu urteilen zurzeit so groß ist wie seit über zehn Jahren nicht mehr. Vergleicht man aber den Rendite-Spread (von fast 2,80 %) zwischen konventionellen Langfrist-Anleihen und inflationsgebundenen Anleihen in der Eurozone mit dem Inflationsziel der EZB von 2 %, haben wir den Eindruck, dass die Finanzmärkte mit der Erwartung einer dauerhaft höheren Inflation etwas über das Ziel hinausschießen. Tatsächlich könnte es sein, dass Anleger die Inflation extrapolieren.