Die Anomalien, auf denen Factor Investing beruht, könnten verschwinden, weil viel Geld in Strategien fließt, die darauf abzielen, von diesen Faktoren zu profitieren. So ungefähr wird argumentiert. Wenn bspw. immer mehr Anleger erkennen, dass sich risikoarme Aktien langfristig tendenziell besser entwickeln als risikoreichere, werden sie möglicherweise in Erstere investieren, wodurch deren Renditepotenzial verringert und ihre Bewertungskennzahlen erhöht werden.
Manche Research-Papiere legen in der Tat nahe, dass Anomalien oft abnehmen, nachdem in wissenschaftlichen Zeitschriften darüber geschrieben wurde1. Im Lauf der Zeit könnte das für einige bekannte Faktorprämien das Ende bedeuten. Gleichzeitig hat die in den letzten Jahren wenig eindrucksvolle Performance bestimmter Faktoren wie insbesondere Value (s. Kasten 1) bei Researchern und Anlegern erhebliche Zweifel aufkommen lassen.
Gehört der Faktor Size der Vergangenheit an? Gehört der Faktor Value der Vergangenheit an? Diese Fragen werden in den letzten Monaten immer häufiger gestellt, und zwar nicht nur in Artikeln in Finanzmedien oder in von Brokern und Assetmanagern an ihre Kunden verschickten Analysen, sondern auch in Research-Papieren, die in von Fachleuten geprüften wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht werden2. Und obwohl bislang noch kein Faktor „für definitiv tot erklärt worden ist“, gibt es nach wie vor Bedenken, dass Faktoren verschwinden könnten.
Werden Faktoren also zwangsläufig durch Arbitrage beseitigt? Keine voreiligen Schlüsse! Erstens: Auch wenn manche Studien nahe legen, dass Anomalien tendenziell abnehmen, nachdem in Fachzeitschriften darüber geschrieben wurde, wird diese Vermutung von anderen in Frage gestellt3.Und während einige Research-Papiere darauf hinweisen, dass sich Faktorprämien als sehr langlebig erweisen4, meinen andere, dass bestimmte Anomalien sogar noch größer werden könnten5.
Zweitens: Auch wenn es vereinzelt Hinweise gibt, dass zu viele Anleger auf bestimmte Faktorstrategien setzen, fehlen bisher empirische Belege, dass dies bei besonders bekannten Faktoren wie Value, Momentum, Low-Risk oder Quality auf breiter Basis der Fall wäre. In manchen Research-Papieren werden diese Befürchtungen als eindeutig übertrieben dargestellt6.
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Faktorprämien verändern sich im Lauf der Zeit
Drittens: Faktorprämien verändern sich im Lauf der Zeit. Dies erklärt auch, warum das in letzter Zeit schlechte Abschneiden des Faktors Value viele Experten nicht wirklich überrascht hat. Lange Zeitabschnitte mit stark unterdurchschnittlicher Performance hat es auch in der nicht allzu fernen Vergangenheit schon gegeben. Value-Investing in US-Aktien funktionierte in den 1930er Jahren über weite Strecken bekanntermaßen nicht. Das war aber auch in den 1990er Jahren lange Zeit so7.
Vergleichbare Zeitabschnitte mit unterdurchschnittlicher Performance finden sich auch für andere bekannte Faktoren wie Low-Risk und Momentum. Während risikoarme Aktien langfristig oft eine bessere Performance erreichen als hoch riskante Papiere, zeigt eine eingehendere Untersuchung einzelner Jahrzehnte, dass risikoreiche US-Aktien in den 1940er, 1950er und 1990er Jahren eine bessere Performance erreicht haben als risikoarme Aktien8.
Auf die wirtschaftliche Begründung kommt es an
Ob man erwarten sollte, dass Faktorprämien bestehen bleiben, hängt letztlich von der wirtschaftlichen Begründung einer Anomalie ab. Für die Existenz von Faktoren werden im Allgemeinen entweder risiko- oder verhaltensbasierte Erklärungen vorgebracht. Anders ausgedrückt: Faktorprämien werden entweder als Ausgleich für Risiken oder als Ergebnis einer Fehlbepreisung infolge von irrationalem Anlegerverhalten angesehen.
Falls Faktorprämien ein rationaler Ausgleich für zusätzliche Risiken sind, sollten sie nicht verschwinden. Anleger, die bisher nicht bereit waren, das mutmaßlich zur Entstehung der Prämie führende Risiko einzugehen, sollten riskantere Wertpapiere aus rationalen Gründen weiterhin meiden, auch wenn diese höhere Renditen erwarten lassen. Dies sollte die Aktienkurse nach unten drücken und die Prämie am Leben erhalten.
Falls Faktorprämien dagegen aus irrationalen systematischen Fehler resultieren, die von der Anlegergemeinschaft begangen werden, erschiene ein gewisser Rückgang logisch. In diesem Fall sollten zumindest einige Anleger in der Lage sein, ihr Verhalten zu ändern und von diesen irrationalen Fehlern zu profitieren. Das würde die Aktienkurse nach oben treiben und die erwarteten Renditen herabsetzen.
Ein dritte Erklärung hat jedoch mit rationalem Verhalten zu tun, bedingt durch die so genannten „Grenzen der Arbitrage“. Die meisten Anleger unterliegen strengen Anlagebeschränkungen, z. B. was den Fremdkapitaleinsatz, Leerverkäufe oder mögliche Abweichungen von einer Benchmark betrifft. Diese Beschränkungen erklären, warum es Fehlbepreisungen gibt, warum die meisten Anleger nicht von diesen profitieren können und warum die Prämien Bestand haben sollten.
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Die Diskussion darüber, welche Erklärung sich durchsetzen wird, geht weiter
Die Diskussion darüber, welche Erklärung sich durchsetzen wird, geht weiter. Während sich Anhänger der Theorie der effizienten Märkte nur die risikobasierte Erklärung vorstellen können, ziehen Anhänger der verhaltensbasierten Erklärung eher Fehlbepreisungen in Betracht. Immer mehr Forschungsarbeiten weisen unterdessen darauf hin, dass ein gewisses rationales Verhalten von Anlegern der Ursprung der meisten allgemein anerkannten Faktorprämien ist.9
Eine abschließende Antwort auf diese Frage wird es so schnell wohl nicht geben, und die Diskussion darüber, welche Erklärungen sich durchsetzen sollten, dürfte erst einmal weitergehen. Wie oben ausgeführt, gibt es jedoch viele einleuchtende und überzeugende Theorien für die Existenz von Faktorprämien. Die Wahrheit über den Ursprung dieser Prämien enthält vermutlich eine Kombination von Elementen der verschiedenen Erklärungen.
Was sollten Anleger tun? (Robecos Ansicht)
Von einem praktischen Standpunkt aus betrachtet, glauben wir, dass Anleger auf gut erforschte und dokumentierte Faktoren setzen sollten, für die es eine risiko- oder verhaltensbasierte, belastbare wirtschaftliche Begründung gibt, die für den Fortbestand dieser Faktoren im Lauf der Zeit spricht. In der folgenden Tabelle sind einige der gängigsten Erklärungen für sechs bekannte Faktoren zusammengefasst10.
Tabelle 1 | Sechs allgemein anerkannte Aktienfaktoren und ihre Erklärung
Quelle: ERI ScientificBeta: „Adding Value with factor indices: sound design choices and explicit risk-control options matter“; White-Paper, April 2019.
Diesen Theorien zufolge sollten Faktorprämien weiter Bestand haben, auch wenn sie Anlegern allgemein bekannt sind. Manche Anleger werden Prämien selbst dann nicht nutzen, wenn sie von deren Existenz überzeugt sind, weil sie die damit verbundenen Risiken nicht eingehen wollen oder durch institutionelle Beschränkungen daran gehindert werden, gegen voreingenommenes Verhalten zu handeln. Außerdem können Probleme auftreten, weil zu viele Anleger auf einen bestimmten Faktor setzen. Das ist aber eine andere Geschichte, mit der wir uns im nächsten Artikel dieser Reihe beschäftigen werden.
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Fußnoten
1 Siehe beispielsweise: Schwert, G.W.: „Anomalies and market efficiency“, NBER Working Paper No. 9277, 2002. Siehe auch: Mclean, R.D., Pontiff, J.: „Does academic research destroy stock return predictability?“, The Journal of Finance, 2016.
2 Siehe beispielsweise: Taylor, D., Bond, G., Lin, C., und Wang, S.: „Is value dead (again)?“, Man Numeric Note, Man Institute, September 2018.
3 Siehe beispielsweise: Jacobs, H. und Müller, S.: „Anomalies across the globe: once public, no longer existent?“ Erscheint demnächst im Journal of Financial Economics.
4 Siehe beispielsweise: Baltussen, G., Swinkels, L., Van Vliet, P.: „Global Factor Premiums“, Arbeitspapier, 2019.
5 Siehe beispielsweise: Blitz, D., Pang, J. und Van Vliet, P.: „The volatility effect in emerging markets“, Emerging Markets Review, 2013.
6 Siehe beispielsweise: Blitz, D.: „Are hedge funds on the other side of the low-volatility trade?“, The Journal of Alternative Investments, 2018.
7 Näheres hierzu finden Sie in unserem kürzlich zu diesem Thema veröffentlichten Artikel: „Uncovering the promises and challenges of factor investing“.
8 Näheres hierzu finden Sie in: Van Vliet, P.: „Low-volatility investing: a long-term perspective“, Robeco Research Paper, 2012.
9 Siehe beispielsweise: Baker, M., Bradley, B. und Wurgler, J.: „Benchmarks as Limits to Arbitrage: Understanding the Low-Volatility Anomaly“, Financial Analyst Journal, 2011. Siehe auch: Li, X. und Sullivan, R. N.: „The limits to arbitrage revisited: The accrual and asset growth anomalies“, Financial Analyst Journal, 2011.
10 Die Liste von Faktoren, die jeder Assetmanager oder Indexanbieter für relevant hält, kann in Abhängigkeit von deren eigenem Research und Überzeugungen leicht variieren. Zum Beispiel nutzen Robecos quantitative Aktienstrategien vier Faktoren: Value, Momentum, Quality und Low-Volatility.
Kasten 1: Erklärung der in letzter Zeit schwachen Performance von Value
Value ist einer der am umfangreichsten dokumentierten Faktoren, und Value-Investing gehört zu den beliebtesten faktorbasierten Ansätzen. Doch die in letzter Zeit schwache Performance wirft Fragen über den Fortbestand dieses Faktors auf. Ist er durch Arbitrage beseitigt worden? Oder hat sich die Wirtschaft so grundlegend verändert, dass der Faktor Value bedeutungslos geworden ist?
Zweifellos haben sich die wachsende Beliebtheit von Value-Investing, die Zunahme der nach diesem Ansatz verwalteten Gelder und sich ändernde wirtschaftliche Rahmenbedingungen auf die Performance ausgewirkt. Es ist aber unwahrscheinlich, dass der Faktor Value obsolet werden wird. Zum einen gelten die am häufigsten vorgebrachten Erklärungen für die Existenz des Value-Faktors – gleich, ob risiko- oder verhaltensbasiert – nach wie vor.
Ein zweiter Aspekt ist, dass die Performance von Faktoren – wie auch die Aktienprämie selbst – im Lauf der Zeit stark schwankt, wobei Phasen mit unterdurchschnittlicher Performance mehrere Jahre dauern können. Value ist hier keine Ausnahme. Es gibt Zeitabschnitte, in denen Wachstumsunternehmen in der Lage sind, die von Anlegern eingepreisten hohen Erwartungen zu erfüllen. Das war in den letzten Jahren der Fall, insbesondere bei großen US-Technologieunternehmen.
Diese Zeitabschnitte mit einer überdurchschnittlichen Performance von Wachstumsunternehmen sind aber nach wie vor die Ausnahme und nicht die Regel. Meistens enttäuschen teure Wachstumsaktien auf lange Sicht die Anleger und bleiben hinter der Performance von Value-Aktien zurück. Wenn Wachstumsaktien nicht gelegentlich deutliche Kursgewinne verbuchen würden, wären alle Value-Anleger und es gäbe keine Value-Prämie.
Und auch wenn die derzeitige schwierige Phase vielleicht die längste seit fast hundert Jahren ist, ist sie keinesfalls die ausgeprägteste. Value-Aktien hinken der Marktentwicklung seit Mai 2010 hinterher. Damit ist die jetzige Phase mit unterdurchschnittlicher Performance doppelt so lang wie die zweit längste in den Jahren 1937 bis 1940. Es gab allerdings Phasen mit einer noch größeren kumulierten Underperformance, z. B. in den Jahren 1932 bis 1935 und während der Technologie-Blase in den 1990er Jahren.
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