Was ist Ihrer Meinung nach die größte Fehleinschätzung ausländischer Anleger hinsichtlich Chinas?
Eine generalisierende Sicht führt nicht weiter. Ein so riesiges und vielfältiges Land lässt sich nicht in einer allgemeinen Formel zusammenfassen wie „China ist ein Kauf“. Beispielsweise beschäftigen sich die Leute viel mit der gesamtwirtschaftliche Lage Chinas und dem Stand des Marktindex. Ich empfehle Anlegern aber stets, auch den einzelnen Unternehmen Aufmerksamkeit zu schenken – und einen aktiven Ansatz zu verfolgen. So gab es auf der Makroebene in letzter Zeit zahlreiche negative Nachrichten. Die politische Reaktion darauf wird aber wahrscheinlich einzelnen Unternehmen oder sogar Teilen des Markts zugutekommen. Jede Veränderung bei der Kapitalallokation oder dem politischen Fokus dürfte neue Chancen schaffen. Darauf sollten sich Anleger konzentrieren. Auch wenn damit Schwierigkeiten verbunden sind und Wissen, Research und Erfahrung erforderlich sind, führt an einer aktiven Anlagestrategie kein Weg vorbei. Man muss die Fundamentaldaten eines Unternehmens untersuchen, nicht nur seine Erträge oder Gewinnprognosen. Man muss begreifen, ob die Behauptungen der Firmen glaubhaft sind – und ob der Markt etwas übersieht oder unterbewertet. Dazu sind Mitarbeiter vor Ort vonnöten. Deshalb verfügen wir über ein Team aus acht Analysten, mich eingeschlossen. Sechs sind in Shanghai und zwei in Hongkong ansässig, sodass wir die Entwicklungen vor Ort erfassen können.
Was denken Sie über die strukturellen Hindernisse, auf die sich viele Anleger fokussieren?
Ich halte die gängige Kritik an China für nachvollziehbar. Demnach ist seine Wirtschaft weniger effizient als die in den USA, die Standards bei der Corporate Governance sind uneinheitlich und wichtige Branchen unterliegen einer gewissen Kontrolle durch die Regierung. Man muss allerdings auch berücksichtigen, dass diese Aspekte bis zu einem gewissen Grad bereits in den Kursen berücksichtigt sind. Entscheidend ist, wie man in diesem Umfeld vorgeht und wie gut man dabei ist zu verstehen, wann sich diese Faktoren auf einzelne Sektoren oder Unternehmen auswirken.
Was sagen Sie zur staatlichen Einflussnahme bei öffentlichen Unternehmen?
Einige ausländische Investoren machen sich Sorgen über den Anteil in Staatsbesitz befindliche Unternehmen im Portfolio. Dabei unterstellen Sie, dass diese sich unterdurchschnittlich entwickeln könnten und definitionsgemäß weniger effizient sind. In Wirklichkeit handelt es sich um einen sehr vielfältige Auswahl von Unternehmen. Je nach Branchenzugehörigkeit haben einige Anreizmechanismen für das Management etabliert und werden zunehmend effizienter. Ebenfalls in Abhängigkeit vom jeweiligen Sektor verfügen einige staatliche Unternehmen über Wettbewerbsvorteile in bestimmten Marktsituationen. Beispielsweise haben wir im Immobiliensektor Staatsunternehmen bevorzugt, da wir einen konservativen Ansatz verfolgt haben und diese Unternehmen Zugang zu günstigeren Finanzierungsmitteln haben und ein geringeres Ausfallrisiko als private Firmen aufweisen.
Wie verhält es sich mit Chinas Technologiesektor?
Wie in anderen Bereichen auch, ist es sehr wichtig, sich auf echte Wettbewerbsvorteile zu fokussieren. Das gilt besonders für Technologieunternehmen. In meiner ersten Anstellung nach dem College arbeitete ich bei Motorola. Dort wurde ich Zeuge, wie das Unternehmen zu einem Branchenführer aufstieg und sich später zu einem Anbieter unter vielen entwickelte, der binnen weniger Jahre von Nokia überholt wurde. Daraus lernte ich, sich nicht von Wachstumsprognosen blenden zu lassen. Man muss sich dabei immer bewusst sein, dass es sich um Extrapolationen handelt. Das Risiko, zum Opfer von Disruption durch neue Anbieter oder neue technologische Entwicklungen zu werden, ist in China ebenso real wie in den Vereinigten Staaten.
Die Corporate Governance wird von ausländischen Anlegern, ob berechtigt oder nicht, als Schwachstelle Chinas angesehen. Wie sehen Sie die Corporate Governance in China im Jahr 2022?
Corporate Governance ist überall ein wichtiges Thema, selbst in den entwickelten Ländern. In China, wie in anderen Ländern auch, nutzen wir unsere ESG-Systematik, um problematische Fälle zu identifizieren und unsere Bewertung entsprechend anzupassen. Es geht dabei nicht darum, „perfekte“ Firmen zu finden – das ist nicht möglich. Vielmehr geht es darum, diesbezügliche Risiken zu verstehen.
Ein zentraler Punkt, den wir in China besonders im Blick behalten, ist die Wahrscheinlichkeit, mit der das Management weiteres Kapital aufnimmt und damit die Position der bisherigen Investoren verwässert oder deren Aktien regelrecht zum Ausverkauf stellt. Wir halten Ausschau nach Verhaltensmustern sowie dem bisherigen Track Record des Managementteams und analysieren, wer die größten Aktionäre sind, um einschätzen zu können, wann wir eine Position reduzieren oder beenden. Manchmal geschieht dies früher, als wir eigentlich wollen und wir realisieren dann einen Teil der Kursgewinne, da wir Risiken sehen. Ein sehr kräftiger Kursaufschwung jenseits vernünftiger Größenordnungen veranlasst uns oft zu einer Verringerung unseres Engagements.
Ist das Fortbestehen eines politischen Einparteiensystems in China positiv oder negativ für Aktienanleger?
Die Antwort darauf lautet stets: sowohl als auch. Man kann zweifellos der Ansicht sein, dass beispielsweise Infrastrukturausgaben von einer zentralen Planung profitieren und eine größere Effizienz und Effektivität aufweisen als in anderen politischen Systemen. Von Vorteil dabei ist die Fähigkeit der Regierung zur Umsetzung und Erfolgskontrolle. Beispielsweise hat China in den letzten zehn Jahren erheblich in sein Mobilfunknetz der vierten und fünften Generation investiert. Dies hat die Ausbreitung des Internets in jeden Winkel Chinas gefördert und die Basis für den Technologieboom an den öffentlichen Märkten geschaffen. Für sich betrachtet gab es für die einzelnen Telekommunikationsunternehmen wenig Anreiz, in größerem Stil in 4G-Netze zu investieren, nachdem man nur wenige Jahre zuvor ein 3G-Netz aufgebaut hatte. Sie bekamen aber nicht die Gelegenheit, innezuhalten und von 3G zu profitieren – sämtliche Erträge wurden wieder investiert. China wies einen recht stark konsolidierten Markt auf, der die 4G-Technologie länger hätte nutzen können - unter Vereinnahmung der Gewinne durch die Unternehmen. Doch die Regierung verlangte von ihnen, in das 5G-Netz zu investieren. Indirekt haben die Infrastrukturinvestitionen auch zur Blüte der Makroökonomie beigetragen. Im Ergebnis ist die Verbreitung der 5G-Technologie in China größer als in Europa oder den USA.
Natürlich gibt es noch mehr Beispiele. So sind das Straßennetz und die Transportlogistik weit fortgeschrittener als in anderen Schwellenländern. Dadurch war China beispielsweise imstande, einen leistungsfähigen E-Commerce Sektor aufzubauen.
Wie steht es um die Nachteile?
Die negativen Aspekte betreffend wissen wir aus der Geschichte, dass zentrale Planung zu Fehlinvestitionen führen kann. Dies war über die Jahre in einigen Sektoren in China zweifellos der Fall. So ist der Stahlsektor von einer gewissen Trägheit geprägt und hält nicht mit der weitgehend konsolidierten globalen Industrie Schritt. Als Assetmanager haben wir diese branchenspezifischen Entwicklungen in unsere Einschätzung einzelnen Unternehmen einfließen lassen.
Eine andere potentielle Herausforderung besteht darin, dass die Regulierungsbehörden in China sehr schnell handeln können. Wenn in den USA zum Beispiel eine kartellrechtliche Untersuchung angekündigt wird, handelt es sich dabei um einen langwierigen rechtlichen Prozess mit ungewissem Ausgang. In China vollzieht sich die Entwicklung schneller, wie das kürzlich bei der regulatorischen Straffung im Technologiesegment zu sehen war. Man muss als Investor also sehr beweglich sein und rasch auf Äußerungen und Handlungen der Regierung reagieren können.
Letzte Frage: Ist für einen Anleger mit einem Netto-Null-Ziel ein Engagement in China angemessen?
Ja, absolut. Es gibt strategische Schlüsselbranchen in China, welche für die globale Energiewende von essentieller Bedeutung sind. Was den Bereich Erneuerbare Energien angeht, gibt es einen großen Binnenmarkt, der zu bedienen ist, außerdem eine bereits etablierte Branchenlandschaft. Es gibt Unternehmen, die in großem Umfang innovativ sind und über die geeignete Größe verfügen, um in ein Portfolio mit Netto-Null-Ziel zu passen. Zwar hat der im Solarsektor erfolgte rapide Aufstieg und Absturz einige Anleger abgeschreckt. Doch problematisch war dabei eher das Timing. Mittlerweile haben sich die Energiepreise zugunsten erneuerbarer Quellen entwickelt, sodass die Perspektiven des Sektors sehr vorteilhaft sind.
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