31-10-2023 · Einblick

KI trifft SI: Nachhaltiges Investieren kann von künstlicher Intelligenz profitieren

Künstliche Intelligenz (KI) gilt als der größte Fortschritt des 21. Jahrhunderts. Doch kann KI auch dazu beitragen, unsere Welt nachhaltiger zu machen? Ja, sagt Quant-Experte Mike Chen. Er glaubt, dass die Entwicklung von KI für die Lösung der größten Herausforderungen der Welt nicht weniger bedeutend ist wie die erste Landung auf dem Mond.

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  • Mike Chen - Head of Next Gen Research

    Mike Chen

    Head of Next Gen Research

Wenn künstliche Intelligenz (KI) auf nachhaltige Investments (SI) trifft, besteht der größte Nachteil darin, dass KI im Wesentlichen nichts anderes ist als ein Computeralgorithmus, der im digitalen bzw. virtuellen Raum arbeitet, während bei nachhaltigen Investments vor allem physische Aspekte im Vordergrund stehen, beispielsweise der Bau von Windturbinen oder der Schutz der Artenvielfalt.

Beim maschinellen Lernen (ML) geht es im Wesentlichen darum, Muster zu erkennen. Dabei werden Daten extrapoliert, um Anomalien zu erkennen, Potenziale für Effizienzsteigerungen zu identifizieren und letztlich künftige Trends vorherzusagen. Ein einfaches Beispiel dafür ist beim Schreiben von Nachrichten auf dem Smartphone die automatische Textvervollständigung, die aus Ihren Tippgewohnheiten lernt, oder die Spam-Detektoren in E-Mail-Programmen.

Auch wenn sich Algorithmen auf die digitale Welt beschränken, sieht Mike Chen, Head of Alternative Alpha Research bei Robeco, enorme Potenziale, sie für nachhaltige Investments zu nutzen – beispielsweise um Klimamodellierungen zu erstellen, die Abholzung von Wäldern aufzudecken, die Gesundheitsversorgung und Bildung zu verbessern oder die Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) zu erreichen.

Tatsächlich bestehen im ganzen ESG-Spektrum Anwendungsmöglichkeiten in jedem einzelnen Umwelt-, Sozial- und Governance-Aspekt, erklärt Chen. Beginnen wir einfach beim Faktor Umwelt („E“):

E: Die Umwelt schützen

„Der Klimawandel zählt zu den größten Herausforderungen, vor der die Menschheit je stand“, so Chen. „Das Apollo-Programm, mit dem erstmals ein Mensch auf dem Mond landete, war eine gewaltige Herausforderung, für deren Bewältigung es ein ganzes Heer an Wissenschaftlern und Ingenieuren brauchte, das mit der Regierung zusammenarbeitete. Das ist beim Klimawandel nicht anders: Die Regierung muss die Führung übernehmen, doch ohne die Wissenschaftler, Hochschulen und NGOs geht es nicht.“

„KI ist in der Lage, bei der globalen Klimamodellierung komplizierte Muster in sehr großen Datensätzen zu erkennen. Und das ist wahrscheinlich der zentrale Punkt, warum KI uns helfen kann. Mithilfe von KI können wir Meeresströmungen und ihre Sonnenreflexion in der Atmosphäre untersuchen, oder auch Jetstreams – alles Teil eines großen, zusammenhängenden Systems.“

„Wenn wir Satelliten- oder Drohnenfotos von Regenwäldern oder anderen Schutzgebieten haben, kann KI außerdem eingesetzt werden, um Muster zu analysieren, Anomalien zu erkennen und illegale Aktivitäten aufzudecken.“

Erneuerbare Energien weiterentwickeln

Chen glaubt, dass KI auch hinter den Kulissen eine Rolle bei der Entwicklung erneuerbarer Energien spielen kann und somit in der Lage sein könnte, die von KI selbst erzeugten Emissionen, die beim Training und Betrieb von KI-Algorithmen entstehen, auszugleichen. Die Nutzung von Computern ist für 2 % des gesamten weltweiten CO2-Ausstoßes verantwortlich – also mehr als die Luftfahrtindustrie. Zurzeit sind es noch hauptsächlich fossile Brennstoffe, mit denen KI betrieben wird.

„Maschinelles Lernen und die Verarbeitung natürlicher Sprache (Natural Language Processing, NLP) sind natürlich nicht in der Lage, selbst loszuziehen und eine Windturbine zu bauen“, erläutert Chen. „Aber bevor man sie baut, muss entschieden werden, wo sie installiert werden soll, wie und mit welcher Technologie sie gebaut wird, und welche Vorteile und Fallstricke zu erwarten sind. Man muss außerdem wissen, welche Generatoren oder Magnete in die Windturbinenmotoren eingebaut werden sollen. Das Ganze erfordert hochkomplizierte Analysen, die mithilfe von KI optimiert werden können.“

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Mithilfe von KI lässt sich die Effizienz von Windkraftanlagen maximieren.

Außerdem haben wir das Problem, dass Windturbinen bei Windstille ebenso wenig funktionieren wie Solaranlagen in der Nacht, weshalb für diese Ausfallzeiten Reservestrom gespeichert werden muss. 30 % aller Investitionen, die erforderlich sind, um bis 2050 das Netto Null-Ziel zu erreichen, entfallen auf den Aufbau eines neuen Stromnetzes.

„Wir müssen eine Art Batteriesystem schaffen, weil erneuerbare Energien weniger verlässlich verfügbar sind als fossile Brennstoffe“, erläutert Chen. „Welches sind also die optimalen Standorte für diese Batterien? Und wie baut man ein optimales Batterienetz auf? Den Energiebedarf unserer Gesellschaft zu decken und den sporadischen und zyklischen Charakter der erneuerbaren Energien zu überwinden – das sind nur einige der vielen Probleme, bei denen uns KI helfen kann.“

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Googeln

Ein praktisches Beispiel sind die Google-Rechenzentren. Dort erzeugen die riesigen Server, die für den Betrieb von Google-Produkten wie Suchmaschinen, Gmail und YouTube verwendet werden, eine Menge Wärme. Zugleich müssen sie mit energieintensiven Kältemaschinen gekühlt werden. Die Google-Tochter DeepMind hat ein KI-Programm entwickelt, das mithilfe von maschinellem Lernen versucht, diese Auswirkungen auf die Umwelt zu verringern. 1

Das DeepMind-Programm sammelte die historischen Daten von Tausenden Sensoren im Rechenzentrum, z. B. die Temperaturen und Kühlpumpengeschwindigkeiten, und speiste die Daten in ein Ensemble neuronaler Netze ein. Anschließend wurden Energieverbrauchsfaktoren hinzugefügt, sodass die Temperatur des Rechenzentrums für die nächste Stunde vorausgesagt werden konnte. Dadurch gelang es, die optimale Energie zu berechnen, die benötigt wird, um alles richtig zu kühlen.

Im Ergebnis konnten durch das Programm der Energieverbrauch für die Kühlung um 40 % und die Gesamtgemeinkosten für die Stromverbrauchseffektivität der Kühlung um 15 % gesenkt werden. Google plant künftige Anwendungen dieser Technologie, beispielsweise zur Reduzierung des Energieverbrauchs bei der Halbleiterherstellung und für Einsparungen beim Wasserverbrauch.

Temperatur messen

Allgemeiner können DeepMind-Technologien genutzt werden, um zu untersuchen, wie viele Menschen sich in Wohnungen, Büroräumen oder Fabriken befinden, mit dem Ziel, die Energieeffizienz zu maximieren. So, wie Sensoren das Licht ausschalten, wenn niemand da ist, kann maschinelles Lernen genutzt werden, um anhand der erkannten Körperwärme zu bestimmen, wann die Heizung oder die Klimaanlage hoch- oder heruntergedreht werden muss. Intelligente Programme wie „Alexa“ von Amazon, die in Privathaushalten eingesetzt werden, machen im Grunde nichts anderes. 2

Weitere Einsatzmöglichkeiten bestehen darin, die E-Mobilität zu beschleunigen. So lernen KI-gestützte Navigationsprogramme beispielsweise, wo neue Ladestationen installiert wurden, um den Fahrer bei der Suche nach der nächstgelegenen Station zu unterstützen. Der wohl bedeutendste Einsatzbereich besteht in der Entwicklung selbstfahrender Fahrzeuge, unabhängig davon, ob sie elektrisch oder mit Benzin angetrieben werden. Dabei lernt die Maschine die örtliche Topografie, die Fahrbedingungen und die Ampelanlagen, um sicher durch die Städte zu navigieren.

S: Gesundheitsversorgung und Bildung verbessern

Im sozialen Bereich („S“) kann KI vor allem genutzt werden, um Verbesserungen im Gesundheits- und Bildungswesen voranzubringen, beispielsweise um neue Krebstherapien zu entwickeln, die Bildung zu personalisieren oder die Molekulartechnik zu verbessern. In manchen Teilen der Welt könnte KI dazu beitragen, die Gesundheitsversorgung erschwinglich zu machen, da diese maschinell skaliert und verbilligt werden kann.

„Ich lebe in Boston, einem der wichtigsten BioTech-Zentren der Welt“, erläutert Chen. „Menschen, die in der BioTech-Branche arbeiten, berichten mir, dass sie KI sehr viel einsetzen, um Medikamente zu entwickeln und neue Therapien beispielsweise im Bereich mRNa zu entdecken. Sie nutzen KI außerdem, um zu simulieren, wie sich ein Medikament auf verschiedene Krankheiten auswirkt.“

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KI kann Fortschritte im Gesundheitswesen befeuern

„KI ist also bereits in den Forschungs- und Entwicklungsprozess integriert, um zu simulieren, wie verschiedene biologische Prozesse oder Mechanismen reagieren und mit verschiedenen Therapien interagieren. Es gibt eine enorme Fülle an Anwendungsbereichen. Bei der Suche nach Lösungen für Krankheiten, mit denen die Menschheit schon sehr lange kämpft, spielt KI mittlerweile eine Schlüsselrolle.“

Zu den gesicherten Anwendungen zählt etwa die Krebsdiagnostik, bei der nach Proteinmarkern oder Indikatoren für bestimmte Anomalien gesucht wird. Wenn ein Patient einen bestimmten Proteinmarker in einer Blutzelle hat, können Algorithmen diesen Marker im Musterabgleich mit anderen Markern vergleichen, um Anomalien zu erkennen – und zwar mit einer höheren Genauigkeit als menschliche Ärzte.

Gesundheitsversorgung erschwinglich machen

Dadurch lassen sich die Diagnosezeiten erheblich verkürzen, was bei lebensbedrohlichen Krankheiten wie Krebs entscheidend sein kann, um den Tumor rechtzeitig zu behandeln. Der vielleicht größte Nutzen von KI besteht jedoch darin, den Zugang zur Gesundheitsversorgung für viele überhaupt erst zu ermöglichen.

„Dass wir so lange auf einen Arzttermin warten müssen, liegt daran, dass es einfach nicht genug Ärzte gibt. Hier kann KI einen erheblichen Unterschied machen“, erläutert Chen. „Die Ärzte sehen sich vor allem die Symptome der Patienten an und nutzen dann ihr Wissen, um ihnen die wahrscheinliche Ursache zu nennen. Sie führen Diagnosen und Tests durch, um diese dann auszuwerten. Viele dieser Arbeiten können vollständig automatisiert werden.“

Davon könnten vor allem Menschen profitieren, die in abgelegenen Dörfern oder in weniger weit entwickelten Ländern leben, wo eine medizinische Versorgung auf herkömmliche Weise nicht ohne weiteres verfügbar oder zu teuer ist. Dabei geben die Patienten ihre Symptome ein, und die Daten werden dann in einer nahegelegenen Stadt ausgewertet. Von dort aus kann dann die Behandlung organisiert und alles Nötige verschickt werden.

Einem Roboter vertrauen?

Genau hier aber liegt das erste große Problem von KI: Was, wenn sie sich irrt? Und wem würden wir lieber unsere Diagnose anvertrauen? Einem Roboter oder dem Arzt oder der Ärztin im weißen Kittel? „Natürlich kann sich KI irren. Doch das können menschliche Ärzte auch. Auch sie stellen Fehldiagnosen“, gibt Chen zu bedenken.

„Wir sind klar darauf konditioniert, Menschen mehr zu vertrauen als einem Roboter, und das ist auch gut so. Ich behaupte auch nicht, dass KI den Menschen ersetzen kann. Auf jeden Fall aber kann sie die Arbeit menschlicher Experten ergänzen und ihnen einen Großteil der Vorarbeit abnehmen.“

Ein weiterer Einwand ist die Frage, wen wir eigentlich zur Rechenschaft ziehen können, wenn eine Maschine Fehler macht. Denn gegen einen Computer kann man schlecht vor Gericht ziehen. Dieses Problem ist allerdings gar nicht existent, da Patienten in diesem Fall gegen den Leistungserbringer oder den Versicherer klagen können – so wie bisher auch. „Es gibt immer noch einen vom Gesundheitssystem und der Regierung gestützten übergeordneten Rechtsrahmen, um Abhilfe bei Beanstandungen zu schaffen“, fügt Chen hinzu. „Daran ändert sich auch nichts, wenn sich das Diagnosesystem ändert.“

Bildung revolutionieren

KI könnte nicht nur die Gesundheitsversorgung, sondern auch das Bildungswesen revolutionieren, indem sie einen gleichberechtigten Zugang für alle unterstützt. „Wissen ist wohl unsere wertvollste nationale Ressource“, glaubt Chen. „Doch die Entwicklung des Wissens der Bevölkerung durch hochwertige Bildung ist sehr teuer, da sie persönliche Aufmerksamkeit erfordert.“

„Jedes Kind ist anders, und jedes Kind lernt anders. Doch wie kann man dem gerecht werden? In den Großstädten kommt es auf eine individualisierte Bildung, während es in abgelegenen Regionen darum geht, überhaupt einen Zugang zu Bildung zu schaffen.“

„Viele treibt die Sorge um, KI könne missbraucht werden. Beispielsweise, indem jemand ChatGPT einen Aufsatz schreiben lässt, um die Prüfung zu bestehen. Ich glaube aber, dass KI im Bereich Bildung einiges bewegen kann. So sind Privatschulen in der Lage, die Schüler individuell und personalisiert zu betreuen, während öffentliche Schulen nicht die erforderlichen Ressourcen dafür haben. KI kann dazu beitragen, die Spielregeln anzugleichen und die Gleichstellung zu verbessern.“

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Bildung für alle zugänglich machen

Schon heute können Maschinen individualisierte Bildungsprogramme erstellen, um Kinder auf ihrem jeweiligen individuellen Stand zu unterrichten, anstatt pauschal alle über einen Kamm zu scheren. Das Umdenken findet allerdings hauptsächlich in den Industrieländern statt. Viele Schulen investieren heute in die Ausstattung der Kinder mit iPads, die ein fokussiertes, personalisiertes Lernen ermöglichen – anstatt immer mehr Lehrer für immer größere Klassen einzustellen.

Der allgemeine Nutzen, den KI für den ESG-Faktor „Soziales“ hat, besteht indessen darin, dass KI – möglicherweise sogar entscheidend – dabei helfen kann, zahlreiche Nachhaltigkeitsziele (SDGs) zu erfüllen. Beispiele dafür sind die Ziele, die auf die Umwelt abzielen (z. B. SDG 13 „Maßnahmen zum Klimaschutz“), die Ziele zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung (z. B. SDG 3 „Gesundheit und Wohlergehen“) sowie die Ziele, die auf das Lernen (z. B. SDG 4 „Hochwertige Bildung“) oder die Ungleichheit abzielen (vor allem SDG 5 „Geschlechtergleichheit“ und SDG 10 „Weniger Ungleichheiten“).

G: KI für Active Ownership

KI hat also enormes Potenzial, etwas zu bewirken. Wie also kann KI eingesetzt werden, um Verbesserungen bei der Unternehmensführung (Governance) voranzubringen? Robeco entwickelt gerade Programme, mit deren Unterstützung Milliarden von betrieblichen Datenfragmenten durchforstet werden können, um Muster zu erkennen, die für die Ausarbeitung von Active Ownership-Strategien genutzt werden können.

Active Ownership erfordert eine Analyse der unternehmerischen Performance als Grundlage für Abstimmungsentscheidungen oder für die Entwicklung einer Engagement-Strategie, wenn Probleme festgestellt werden. In den daran anschließenden Gesprächen mit den Unternehmensvertretern kommen dann wieder unsere menschlichen Experten zum Einsatz.

„Der Einsatz von KI kann Stewardship-Experten dabei unterstützen, ihre Analysen gezielter auszurichten und effizienter auf die Unternehmen zuzugehen“, erläutert Michiel van Esch, Head of Voting bei Robeco. „KI kann uns zunehmend dabei unterstützen, vorbereitende Arbeiten durchzuführen, Daten zu erfassen, Berichte effizienter zu erstellen oder Änderungen in der Berichterstattung der Unternehmen zu erkennen.“

Maschinen sind sehr gut darin, in großen Datenmengen Ausreißer zu erkennen und können deshalb auch in den Bereichen Compliance und Auditing wertvolle Unterstützung bieten. Das KI-Potenzial für Compliance-Verantwortliche, unerwünschte menschliche Eigenschaften zu erkennen, wurde kürzlich in einer im „Daily Telegraph“ veröffentlichten Karikatur über Alex, einen fiktiven Investmentbanker in London City, parodiert. 3

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Vom Lügendetektor bis zum chinesischen Slang

Diese Fähigkeit, Muster in menschlichen Emotionen vorherzusagen, ist nicht neu. Sie wird schon lange in Lügendetektortests eingesetzt, um festzustellen, ob jemand die Wahrheit sagt oder nicht. Chen hat mit deren Unterstützung einst ein Wörterbuch für den chinesischen Investment-Fachjargon erstellt, das sich ständig weiterentwickelt.

Die Entwicklung chinesischer A-Aktien hängt stark von der Stimmung der Kleinanleger ab, die nur wenig Erfahrung mitbringen. Mithilfe eines NLP-Programms konnten wir chinesischsprachige, oft sehr umgangssprachlich verfasste Investment-Blogs lesen, um besser zu verstehen, welche Aktien gerade favorisiert werden – und warum. 4

„Wie bei der chinesischen Umgangssprache kann NLP auch erkennen, in welcher Stimmung jemand ist, um beispielsweise zu bestimmen, ob eine Aussage sehr vage oder sehr konkret ist“, erläutert Chen. „Wir haben gerade ein Projekt laufen, mit dem wir auf diese Weise Greenwashing aufdecken können.“

Aufstieg der Maschinen

Viel wichtiger als die Frage, wie KI die Unternehmensführung verbessern oder Greenwashing aufdecken kann, ist jedoch die Frage, wie sich die Technologie selbst regeln lässt. Eine der Hauptsorgen besteht darin, dass KI irgendwann eigene Empfindungen und ein eigenes Bewusstsein entwickelt, das die Menschheit bedroht. Könnte sich KI jemals zu einer eigenen Lebensform entwickeln? Einige führende Persönlichkeiten des Tech-Sektors wie Elon Musk forderten im März sogar, die Arbeit an KI für ein halbes Jahr zu unterbrechen, bis alle Risiken bekannt sind. 5

Die Vorstellung einer KI, die sich gegen ihre menschlichen Schöpfer erhebt, bietet sicherlich guten Stoff für großartige Filme. Doch kann man diese Vorstellung getrost Hollywood überlassen, glaubt nicht nur Chen, sondern auch ein ausgewiesener Experte für die globale Sicherheit – das Pentagon. „Ich glaube, die Schaffung einer „künstlichen allgemeinen Intelligenz“, die sich so weiterentwickelt, dass sie empfindungsfähig wird, liegt durchaus im Rahmen des Möglichen. Doch das ist heute sicherlich nicht der Fall“, erklärt Chen.

„Wir sprechen seit Jahrzehnten davon, das menschliche Bewusstsein in eine Art Datenverarbeitungsinfrastruktur hochzuladen und Dinge zu tun, wie Träume in audiovisuelle Medien umzuwandeln. Bis heute hat aber niemand herausgefunden, wie das gehen soll.“

Keine Büchse der Pandora

Das US-Verteidigungsministerium ist ebenfalls der Ansicht, dass sich die Maschinen nicht gegen uns erheben werden. Das Ministerium hat die „Taskforce Lima“ ins Leben gerufen, um die Sicherheit der neuesten KI-Entwicklungen zu untersuchen, für den Fall, dass sie jemals zu einer Bedrohung für die Menschheit werden sollten. Dr. Craig Martell, Leiter des Bereichs digitale Intelligenz im Pentagon, glaubt jedoch nicht, dass wir uns in nächster Zeit Sorgen machen müssen.

„KI ist weder eine Lösung für alle Probleme der Welt noch eine Büchse der Pandora“, so Dr. Martell in einem Interview auf einer Londoner Waffenmesse im September.6 „Der Wert dieser Technologie wird komplett von der Menge und der Qualität der Daten abhängen, die wir haben. Die meisten Daten sind weder kuratiert noch gekennzeichnet und somit keine Informationen, sondern Rauschen.“

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Das Pentagon nutzt KI nur zum Schreiben von Memos.

Martell hält KI derzeit für zu unzuverlässig, um im Verteidigungsministerium für irgendetwas anderes verwendet zu werden als für „den ersten Entwurf eines Memos“. Hingegen erklärte Wladimir Putin einmal, dass jene Nation, die KI beherrscht, „die Welt beherrschen wird“, und entwickelt China unverhohlen militärische KI-Anwendungen – was den US-Kongress veranlasst hat, das Pentagon aufzufordern, dafür zu sorgen, dass es KI beherrscht, bevor es die Feinde der USA tun.

KI bewegt sich mit Lichtgeschwindigkeit, der Mensch nicht

Wir sollten uns auch nicht von der Vorstellung hinreißen lassen, dass KI Science-Fiction-Elemente wie Lichtgeschwindigkeit oder Zeitreisen Wirklichkeit werden lässt, bemerkt Chen. „Bestimmte Dinge sind Konstanten – und tatsächlich existieren universelle physikalische Konstanten“, so Chen weiter. „Ich glaube nicht, dass sich die Gesetze der Physik heute schon besiegen lassen.“

„Dennoch ist die Lichtgeschwindigkeit, mit der KI voranschreitet, überraschend. Man hat den Eindruck, es kommt praktisch täglich eine neue Innovation auf den Markt. Die neueste Innovation besteht darin, dass KI Computercodes oder Tabellenkalkulationen lesen kann und uns dann in Worten mitteilt, was dabei passiert. Das ist wirklich ganz erstaunlich.“

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Deepfake – die dunkle Seite der Macht

Die Regulierung könnte im Zentrum der Bemühungen stehen, jede – echte oder vermeintliche – Bedrohung durch KI abzuwehren. Eine bekannte Missbrauchsform der Technologie sind „Deepfakes“ – das Erstellen von Videos, Bildern und Sprache, die täuschend echt erscheinen.

Viele können den Unterschied zwischen der KI-geschaffenen und der echten Welt tatsächlich nicht erkennen. Dies zeigte sich zuletzt im Oktober 2023, als mit KI eine Stimme erzeugt wurde, die den Anschein erweckte, als würde der Vorsitzende der größten britischen Oppositionspartei Labour, Sir Keir Starmer, einen Kollegen beschimpfen. Das Video verbreitete sich schnell in den sozialen Medien und erreichte 1,5 Millionen Aufrufe auf der Plattform X (ehemals Twitter), bevor es schließlich als Deepfake entlarvt wurde. 7

„Es ist wie bei allen anderen Dingen auch: Es gibt positive und es gibt negative Aspekte“, räumt Chen ein. „Nehmen wir das Internet: Es kann für Gutes und für Schlechtes genutzt werden. Unter dem Strich ist das Internet eine großartige Sache für die Menschen. Wir können viel einfacher kommunizieren, es hat die Hürden gesenkt, um auf Informationen zugreifen zu können, und es hat uns den elektronischen Handel gebracht. Doch das Internet hat auch viele Schattenseiten. Beispiele dafür sind E-Commerce-Betrug, Online-Raubtiere, Missbrauch in sozialen Medien oder die sekundenschnelle Verbreitung von Fehlinformationen.“

„Die Fähigkeit, überzeugende Fälschungen oder alternative Fakten zu schaffen, ist unbestreitbar ein Riesenproblem. Dennoch kommt es auf die Menschen an, die diese Fähigkeit benutzen. Und ich glaube nicht, dass wir die Menschen, die das Falsche tun, jemals ausrotten werden.“

„Es gibt kein Schwarz und Weiß, sondern jede Menge Grautöne. Das hängt ab von der Kultur, dem Kontext und den verschiedenen Wertesystemen. 3D-Druck ist fantastisch – bis jemand damit eine Waffe baut.“

Keine nukleare Option

Chen glaubt, dass man am Beispiel von Atomwaffen, die seit dem ersten Abwurf in Japan im Jahr 1945 trotz ihrer globalen Verbreitung nie eingesetzt wurden, erkennen kann, dass die Menschheit in der Lage ist, mit Bedrohungen umzugehen, die ihre eigene Zerstörung zur Folge haben könnten.

„Ich glaube, dass die Menschheit in der Lage ist, KI zu regulieren, um zu verhindern, dass sie katastrophale Fehler macht“, erläutert Chen. „Ich bin vorsichtig optimistisch, dass die Menschen einen Weg finden werden, um KI zu regulieren.“

Wirklich wichtig ist aber, dass die Regierungen in der ganzen Welt an einem Strang ziehen – genau wie beim Klimawandel. „Wir brauchen eine gemeinsame Führung. Das mag in der heutigen Zeit eine große Herausforderung sein. Doch es muss wie beim Pariser Abkommen eine Art globaler Rahmen geschaffen werden, um eine Art einheitliches Regulierungssystem zu erreichen“, sagt er.

Ein solches Regulierungssystem sollte jedoch nicht zu weit gehen, wenn wir die erstaunlichen Entwicklungen, die KI bislang gemacht hat, fortführen wollen und Innovationen nicht durch Regulierung erstickt werden, glaubt Chen. Praktisch alle technologischen Fortschritte des letzten halben Jahrhunderts, vom ersten Smartphone bis zur jüngsten Entwicklung von Covid-Impfstoffen, wurden vom Profitstreben des privaten Sektors getragen.

Bis zum Mond

Und es wird immer eine Gegenwirkung geben. Dampfmaschinen haben zum Leidwesen der Schmiede die Pferdekraft ersetzt, während die digitalen Medien für Videokassetten, für den größten Teil der Fotofilm-Industrie und für viele Zeitungen das Aus bedeuteten. Doch der technische Fortschritt hat auch seine Grenzen: Auch wenn die erste Mondlandung zur größten Errungenschaft der Menschheit wurde, ist seither niemand mehr dorthin zurückgekehrt. Und wir sind weit davon entfernt, andere Planeten zu besiedeln.

KI kann insgesamt am besten als transformative Technologie beschrieben werden, die noch auf eine nützliche Endanwendung wartet. So wie Elektrizität letztlich das Mittel ist, um alles zu betreiben, von der Hausbeleuchtung bis zum Haartrockner – oder auch zukünftige Mondlandungen.

„Das Aufregende an KI ist nicht nur, was sie selbst tun kann, sondern vor allem das, was sie ermöglicht und in Verbindung mit anderen Innovationen erreichen kann – so wie eines die Erfindung der Elektrizität“, stellt Chen fest.

„Die Dampfmaschine war letztlich ein Gerät, mit dem Arbeit eingespart werden konnte. Jetzt kann KI uns auf die nächste Stufe bringen, indem sie sich selbst immer weiter verbessert, wie es das maschinelle Lernen impliziert.“

„Wir müssen nur dafür sorgen, dass wir sie kontrollieren ... für den Fall, dass sie am Ende in der Lage sein sollte, uns zu kontrollieren.“