Schwellenländer: ein klassisches Wachstumsmärchen?
Die Attraktivität von Schwellenländern ist eine klassische Wachstumsstory; denn ausgehend von einem niedrigeren Vermögensniveau besitzen sie großes Aufholpotenzial. Das Problem mit Wachstumsstorys ist allerdings, dass Anleger oft verleitet werden, für Wachstum zu viel zu bezahlen. Dieses Phänomen ist der Ursprung der Value-Prämie, einem unserer wichtigsten quantitativen Faktoren. Statt mit einem Bewertungsaufschlag werden Schwellenländer aber mit einem Abschlag gegenüber den Industrieländer-Börsen gehandelt. Sie sind also anscheinend ein Fall von Wachstum – zu Preisen von Substanzwerten.
David Blitz
Chief Researcher
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Sie sind anscheinend ein Fall von Wachstum – zu Preisen von Substanzwerten
Eine Sorge in Bezug auf Schwellenländer ist, dass sie tendenziell etwas risikoreicher sind als die Aktienmärkte der Industrieländer. In effizienten Märkten sollten diese höheren systematischen Risiken durch höhere Renditen, d. h. angemessene Risikoprämien, kompensiert werden. Risikoreichere Aktien liefern im Allgemeinen aber keine höheren durchschnittlichen Renditen – ein Phänomen, das als „Low-Risk-Anomalie“ bekannt ist.
Ein gutes Vorsichtsprinzip ist deshalb, sich auf sichere Aktien zu konzentrieren und riskantere Titel zu meiden. Interessanterweise gibt es im Schwellenländer-Universum viele Aktien, die weniger volatil sind als die durchschnittliche Aktie aus Industrieländern, obwohl die Schwellenmärkte insgesamt etwas volatiler sind. Zudem ist die Volatilität globaler Aktienportfolios mit und ohne Schwellenmärkten mehr oder weniger gleich, sodass die mit Schwellenländern verbundenen Risiken in einem globalen Portfolio durch Diversifizierung effektiv beseitigt werden.
Sind die Schwellenländer eine eigenständige Anlageklasse?
Die Zeiten, in denen Schwellenländer nur Roh- und Grundstoffe exportierten, sind längst vorbei. Embraer in Brasilien stellt Passagierflugzeuge her, die von Fluggesellschaften auf der ganzen Welt eingesetzt werden. Südkorea ist bekannt für moderne Elektronikgeräte und Autos (mit starken Marken wie Samsung, LG, Hyundai und Kia). Taiwan ist der wichtigste Halbleiterhersteller, und China ist führend bei Solarzellen, die für die weltweite Energiewende benötigt werden.
Aus quantitativer Sicht ist die ganze Unterscheidung zwischen Schwellenmärkten und den Aktienmärkten der Industrieländer tatsächlich recht willkürlich. Sie erfolgt häufig anhand von Kriterien wie der wirtschaftlichen Entwicklung, der Marktgröße, -liquidität und -zugänglichkeit. Natürlich hat das seine Berechtigung. Eine binäre Betrachtung der Schwellenmärkten gegenüber den Industrieländer-Börsen wird der Komplexität der Sache aber einfach nicht gerecht. Ein logischer Ausgangspunkt wäre, ein alle Länder (also Industrie- und Schwellenländer) umfassendes Marktportfolio, das alle Anlagechancen enthält, zu nehmen und dann zu überlegen, welche Einzeltitel daraus ausgewählt werden sollten.
Wie geht es weiter an den Schwellenmärkten?
Während die Schwellenmärkte bis 2010 eine weit bessere Performance erreichten als die Aktienmärkte der Industrieländer, hinken sie seit 2011 allen anderen Regionen hinterher. Sie können also die Portfolio-Performance steigern, aber auch erheblich bremsen. Entscheidungen zum Markettiming sind extrem schwierig, und das quantitative Instrumentarium ist hier kaum von Nutzen. Die Schwellenmärkte waren im Vergleich zu den Industrieländer-Börsen ohnehin schon preiswert und sind mittlerweile noch „billiger“ geworden, was ihre Underperformance seit 2011 mit erklärt. Eine Trendwende ist notwendig, die Dynamik aber nach wie vor schwach und der Fünfjahresausblick des Multi-Asset-Teams von Robeco negativ. Dies legt eine neutrale Positionierung in den Schwellenmärkten nahe – in dem Bewusstsein, dass Timing-Entscheidungen schwierig sind. Als quantitative Investoren sind wir auch bei der Länderallokation zurückhaltend, weil es selbst rückblickend schwierig ist, langfristige Länderrenditen mit Fundamentaldaten zu verknüpfen.
Fundamentaldatenbasiertes versus quantitatives Investieren?
Quantitative Faktoren für die Einzeltitelauswahl sind in den Schwellenländern allerdings außergewöhnlich stark. Dennoch ist die Überzeugung anscheinend weit verbreitet, dass für die Schwellenländer ein fundamentaler Anlageansatz besser geeignet ist. Doch warum ist das so? Das klassische Argument gegen quantitatives Investieren in Schwellenländeraktien ist die möglicherweise dürftige Datenqualität. Diese Sorge scheint aber recht übertrieben zu sein.
Wenn es in den Schwellenländern viele weniger sachkundige Anleger gibt, dann sollte dies zudem nicht nur fundamentaldatenorientierten Anlegern zugute kommen, sondern auch quantitativen Modellen, die wiederkehrende Fehlbewertungsmuster ausnutzen. Erstere hätten nur dann einen klaren Vorteil, wenn sie Zugang zu eigenen nicht öffentlichen Informationen hätten – also durch Insiderhandel.
Statt fundamentaldatenbasierte und quantitative Ansätze als gegensätzlich zu betrachten, können sich diese sogar gegenseitig verstärken. Zum Beispiel nutzen die Fundamentalanalysten und Portfoliomanager von Robeco von quantitativen Modellen ausgehende Signale für die Entwicklung von Kauf-/Verkaufsideen. Und die Prüfung dieser Signale hat sich als sehr nützlich erwiesen, um bei bestimmten Aktien oder Gruppen von Aktien Probleme bei den Daten zu erkennen.
Fazit
Es ist leicht, Schwellenländeraktien nicht zu mögen, weil sie seit über zehn Jahren schlechter performen als Aktien aus Industrieländern und generell mit höheren Risiken und niedrigeren ESG-Standards verbunden sind. Andererseits sind die Schwellenmärkte zu einem integralen Bestandteil der Weltwirtschaft geworden. Sie werden mit einem hohen Bewertungsabschlag gehandelt, und die Geschichte zeigt, dass sie eine hervorragende Performance erreichen können.
Quantitative Faktoren sind in den Schwellenmärkten besonders effektiv, sodass es keinen Grund gibt, aktives Management auf fundamentale Ansätze zu beschränken. Faktoren bieten die höchsten risikobereinigten Renditen, wenn sie bei der Aktienauswahl innerhalb eines Landes und nicht für große und riskante Länderwetten eingesetzt werden. Erfahrung und die Kenntnis von Fundamentaldaten sind unverzichtbar, um die Fallstricke eines systematischen Anlageansatzes in Märkten mit vielen Besonderheiten zu vermeiden.
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