Das aus dem Jahr 1964 stammende Capital Asset Pricing Model (CAPM) war lange Zeit die Hauptstütze, um das Verhältnis zwischen Risiko und Ertrag zu erklären. Gemäß dieser Theorie sollte ein höheres Risiko auch höhere Erträge nach sich ziehen. Empirische Beobachtungen stehen dieser Auffassung allerdings entgegen. Abbildung 1 zeigt das Risiko/Rendite-Profil von zehn Portfolios, die nach der Volatilität ihrer historischen Erträge sortiert wurden. Dabei wird deutlich, dass sich das Eingehen von mehr Risiko (Volatilität) für Anleger nicht immer gelohnt hat.
Abbildung 1 | Langfristiges Risiko/Rendite-Profil von zehn nach Volatilität sortierten Portfolios
Quellen: Robeco, CRSP. Die Abbildung zeigt die durchschnittlichen annualisierten Erträge und Volatilitäten von 10 Portfolios, die nach der Volatilität ihrer Renditen in den letzten 36 Monaten sortiert wurden. Das Anlageuniversum umfasst alle Stammaktien, die an den Börsen NYSE, AMEX und NASDAQ gehandelt werden – mit valider Marktkapitalisierung und Renditedaten von 1926-2020. Die Portfolios sind gleichgewichtet und die Portfolioerträge umfassen den Zeitraum von Januar 1929 bis Dezember 2020.
Der Low Volatility-Effekt steht im Widerspruch zur risikobasierten Denktradition
Das CAPM unterstellt einen linearen Zusammenhang zwischen dem Risiko (Marktsensitivität, z.B. Beta) und dem Ertrag von Wertpapieren. Allerdings haben zahlreiche Untersuchungen gezeigt, dass Aktien mit niedrigem Beta entgegen der Intuition auf risikobereinigter Basis besser abschneiden als Titel mit hohem Beta. Darauf wurde bereits in den 1970er Jahren in einem wegweisenden Papier hingewiesen, welches zeigte, dass Portfolios mit weniger schwankungsintensiven Aktien höhere Erträge erzielen als solche mit größerem Risiko.1
Nach der Effizienzmarkthypothese müssten Aktien mit geringerem Risiko andere Risiken beinhalten, die nicht vom jeweiligen Markt-Beta erfasst werden – was ihre höheren Renditen erklärt. Doch Versuche, diese Risiken zu identifizieren, gab es nur vereinzelt. Sie überzeugen auch kaum im Vergleich zu den von der Behavioral Finance-Theorie entwickelten Erklärungen für das Phänomen.
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Risikobasierte Theorien, die den Low Volatility-Effekt erklären, sind in der akademischen Forschung weitgehend umstritten
Low Volatility-Aktien finden sich typischerweise in defensiven Sektoren. Sie weisen besser vorhersehbare Cashflows auf, weshalb die Bewertungsunsicherheiten bei ihnen geringer sind. Somit weisen sie eine anleihenähnliche Charakteristik auf. Da sie typischerweise Dividenden zahlen, nutzen Anleger sie häufig auch als Anleihenersatz. Ungeachtet dieser Eigenschaften ergaben Untersuchungen von Robeco, dass das Zinsrisiko nicht für den langfristigen Mehrwert von Low Volatility-Strategien verantwortlich ist.
Allgemein sind risikobasierte Theorien, die den Low Volatility-Effekt erklären, in der akademischen Forschung weitgehend umstritten. Dagegen sind die Forschungsergebnisse der Behavioral Finance-Denkrichtung in dieser Hinsicht weit bedeutender.
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Anlegerverhalten bewirkt Low Volatility-Prämie
Verhaltensbedingte Verzerrungen und Beschränkungen liefern überzeugendere Gründe dafür, weshalb Low Volatility-Aktien höhere risikobereinigte Renditen als schwankungsintensivere Titel erzielen. Im Unterschied zu anderen Faktorprämien, die sich aus irrationalem Anlegerverhalten ergeben, wird die Low Volatility-Anomalie durch „rationales“ Verhalten von Anlegern bestimmt. Einige der Untersuchungen, die sich mit diesem Zusammenhang befassen, sind unten aufgeführt.
In der Investmentbranche gelten relative Erträge häufig als wichtigerer Maßstab für die Wertentwicklung oder die Fähigkeiten eines Anlagemanagers. Low Volatility-Investing kann deshalb weniger beliebt sein, da Low Volatility-Portfolios sich deutlich von Benchmarks unterscheiden können. Dies kann zu einem höheren Tracking Error (relatives Risiko) führen, der für einige Anleger nicht akzeptabel ist. Das gilt insbesondere dann, wenn es in aufwärtsgerichteten Märkten zu einer kurzfristigen Underperformance kommen kann.2 Somit schafft das Bestreben, mit den Märkten Schritt zu halten, an deren Wertentwicklung die Portfolios gemessen werden, Anreize für Anlagen in Aktien mit hoher Volatilität.
Der Fokus auf die relative Wertentwicklung sorgt laut der Forschung für sogenannte Agency-Probleme.3 Anlagemanager verfügen gewöhnlich über Verträge mit optionsartigen Anreizen. Sie versuchen typischerweise deren Wert zu maximieren, indem sie hohe Portfolioerträge anstreben. Das kann dazu führen, dass Aktien mit höherem Risiko für sie attraktiver sind.
In einer anderen Publikation wird festgestellt, dass Assetmanager dazu motiviert werden, in gewinnmaximierende High Beta-Aktien zu investieren.4 Daher sind sie möglicherweise bereit, zu hohe Preise für Aktien zu zahlen, die sich in aufwärtsgerichteten Marktphasen überdurchschnittlich entwickeln und tendenziell sehr schwankungsanfällig sind. Dagegen unterschätzen sie Titel, die in fallenden Märkten eine Outperformance erzielen und typischerweise eine Low Volatility-Charakteristik aufweisen.
Eine akademische Studie erläutert auch, wie Beschränkungen hinsichtlich der Kreditaufnahme ebenfalls zum Low Volatility-Effekt beitragen.5 Je nach Risikobereitschaft können Anleger die Erträge erhöhen, indem sie ein Low Volatility-Portfolio durch Kreditaufnahme „hebeln“. Damit könnten sie ihr Ertragspotential steigern, ohne ein zusätzliches Risiko einzugehen. Doch aufgrund von Beschränkungen hinsichtlich der Kreditaufnahme übergewichten sie typischerweise riskantere Anlagen im Streben nach höheren Erträgen, wodurch sie ihre erwartete Rendite schmälern.
Eine weitere Ursache des Low Volatility-Phänomens ist der Lotterieeffekt.6 Viele Anleger nehmen an den Finanzmärkten in spekulativer Absicht teil, was sie Aktien mit höherem Risiko aufgrund ihres größeren Kurspotentials bevorzugen lässt. Dagegen ist ihr Verlustrisiko auf den investierten Betrag beschränkt. In diesem Szenario sind Anleger bereit, eine Prämie für das Risiko zu zahlen, anstatt dafür kompensiert zu werden.
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Die Low Volatility-Prämie besteht bereits seit den 1930er Jahren
Weshalb verschwindet die Low Volatility-Prämie nicht durch Arbitrage?
Der Low Volatility-Effekt ist eine der stabilsten Marktanomalien. Im Jahr 2008 wurde Low Volatility-Investing als Anlagestil allgemein anerkannt, da er sich während der globalen Finanzkrise bewährte und inmitten eines breitbasierten Ausverkaufs Schutz vor Verlusten bot. Dessen ungeachtet wurde die Anomalie bereits über einen langen Zeitraum beobachtet und steht in engem Zusammenhang mit verhaltensbedingten Verzerrungen. Tatsächlich besteht die Low Volatility-Prämie bereits seit den 1930er Jahren. Unseres Erachtens gibt es mehrere Gründe dafür, weshalb sie nicht durch Arbitrage verschwunden ist.
Zum einen entscheiden sich Anleger aufgrund der Bedeutung der relativen Wertentwicklung in der Investmentbranche typischerweise gegen deutliche Abweichungen von der Benchmark. Gleichzeitig streben sie höhere Erträge an als die, welche die Benchmark abwirft. Dieses Dilemma schafft für sie Anreize, schwankungsintensiven Aktien gegenüber Titeln mit geringerer Volatilität zu bevorzugen.
Zweitens ist das Volumen von Anlagen in Low Volatility-ETF im Lauf der Zeit gestiegen. Doch obwohl derzeit große Kapitalvolumina in Low Risk-Strategien oder solchen, die auf bestimmte defensive Sektoren abzielen, investiert sind, stehen diesen beträchtliche Anlagen in ETFs gegenüber, die auf ein hohes Risiko abzielen.7
Schließlich macht auch das Fehlen von Verschuldungsgrenzen und relativen Wertentwicklungsmaßen es für Hedgefonds-Manager attraktiv, die Low Volatility-Anomalie auszunutzen. Obwohl für sie keine Beschränkungen hinsichtlich der Kreditaufnahme gelten und ihre Wertentwicklung absolut gemessen wird, sorgt ihre optionsartige Anreizstruktur dafür, dass sie riskantere Aktien tendenziell bevorzugen. Das trägt dazu bei, dass die Low Volatility-Anomalie fortbesteht.8
In der nächsten Publikation aus dieser Serie werden wir den Value-Faktor aus dem Blickwinkel von Behavioural Finance betrachten. Im vorangegangenen Artikel haben wir uns mit dem Faktor Momentum befasst.
Fußnoten
1R. A. Haugen und J. A. Heins, „Risk and the rate of return on financial assets: some old wine in new bottles“, in: Journal of Financial and Quantitative Analysis, Dezember 1975.
2E. Falkenstein, „Risk and return in general: theory and evidence”, Working Paper, Juni 2009.
3D. Blitz, E. Falkenstein und P. van Vliet, „Explanations for the volatility effect: an overview based on the CAPM assumptions“, in: Journal of Portfolio Management, April 2014.
4E. Falkenstein, „Preferences for stock characteristics as revealed by mutual fund portfolio holdings”, in: Journal of Finance, März 1996.
5A. Frazzini und L. H. Pedersen, „Betting against beta”, in: Journal of Financial Economics, Januar 2014.
6D. Blitz, P. van Vliet und G. Baltussen, „The volatility effect revisited”, in: Journal of Portfolio Management, Januar 2020.
7D. Blitz und M. Vidojevic, „The performance of exchange-traded funds", in: Journal of Alternative Investments, Dezember 2020; D. Blitz, „Are exchange-traded funds harvesting factor premiums?", in:Journal of Investment Consulting, August 2017.
8D. Blitz, “Are hedge funds on the other side of the low volatility trade?”, in: Journal of Alternative Investments, Juni 2018; N.L. Baker und R.A. Haugen, “Low risk stocks outperform within all observable markets of the world“, Working Paper, Mai 2012.